Prügel, Psychoterror, Angst vor Satan: 20 Jahre lebte Robert Pleyer bei den Zwölf Stämmen, einer radikalen Sekte mitten in Deutschland. Vor drei Jahren schaffte er den Ausstieg. Jetzt rechnet er ab
Robert Pleyer in seiner Zeit bei den Zwölf Stämmen. Inzwischen lebt er mit seinen Kindern im Bayerischen Wald. Seine Frau, Tochter eines "Ältesten", schaffte den Ausstieg nicht. Sie kehrte in die Gemeinschaft zurück und lebt auch heute dort
Die kleinen Hände sind Gefangene in seinen Fäusten. "Sei ruhig!", befiehlt er. "Sitz still!" Asarah starrt ihn an. Er ist ihr Abba. Ihr Vater. Sie liebt ihn. Er tut ihr weh. Er hält sie fest. Sie zappelt. "Nein, still sitzen!" Sie versucht, die Hände aus dem Griff zu lösen. Er hält sie fester. Sie schreit. Sie biegt sich nach hinten. Er drückt mit der flachen Hand den Kopf auf ihre Brust. Sie schwitzt. Äderchen platzen in ihrem Gesicht. Anderthalb Stunden dauert der Kampf. Erschöpft lässt sie ihren Kopf in seine Hand sinken. Sie gibt auf. Sie ist erst acht Monate alt.
"Restraint", heißt die Erziehungsmethode, die Robert Pleyer im Laufe der folgenden sechs Monate alle zwei bis drei Tage bei seiner Tochter anwendet. Sechs Monate, in denen das Mädchen so brav wird wie ein Hund, den sein Herrchen auf "Sitz!" dressiert hat. Sechs Monate, in denen er auch seinen eigenen Willen bricht. "Als ich bei Asarah zum ersten Mal das Restraint durchführen musste, wusste ich, dass ich das nicht mehr kann", sagt er, "dass ich nicht mehr Kinder schlagen und ihnen den Willen brechen kann."
Er macht trotzdem weiter. Die Macht, die eine Ideologie über einen Menschen haben kann, eine Glaubenslehre, die mit dem Teufel droht, mit ewiger Verdammnis, ist unermesslich. Robert Pleyer hat sich ihr über Jahre unterworfen. Er brauchte lange, bis er sich doch befreien konnte.
Zunächst fühlte er sich befreit
Er war Anfang 20, als er zu den Zwölf Stämmen kam. Damals war er auf der Suche nach einem Leben, in dem es nicht nur um materielle Werte ging, sondern um echte Freundschaft, um Sinn, um Spiritualität. Bei den Zwölf Stämmen fand der Student aus bürgerlichen Verhältnissen, was er suchte. Er lebte zunächst in der Gemeinschaft im französischen Sus. Er arbeitete in der Biobäckerei. Er fühlte sich befreit. "Damals war alles liebevoller, spontaner", erinnert er sich. "Wir waren viele junge Leute aus der ganzen Welt. Wir haben zusammen gesungen und zu Folklore getanzt. Wir haben zusammen gebetet. Da waren viele Dinge, die mir auch Kraft gegeben haben."
20 Jahre verbrachte er in der 1972 von dem US-amerikanischen Pädagogen Gene Spriggs gegründeten Gemeinschaft, die sich als die wirkliche Kirche der Urchristen versteht, als Hort der göttlichen Liebe. Die Hälfte seines Lebens. Es dauerte eine Zeit, bis er spürte, dass er nicht befreit, sondern in einer radikalen Sekte mit rigorosen Regeln und strengen Hierarchien war. Vor drei Jahren hat er den Ausstieg geschafft. Gemeinsam mit seinen vier Kindern.
"Der Satan schläft nie" heißt das Buch, das er über sein Leben bei den Zwölf Stämmen geschrieben hat. Es gewährt einen schockierenden Einblick in die Glaubensgemeinschaft, die in Deutschland einen Stützpunkt im fränkischen Wörnitz und einen in Klosterzimmern im bayerischen Landkreis Donau-Ries hat.
Robert Pleyer mit seinen vier Kindern und seiner neuen Partnerin, die einen Sohn mit in die Beziehung brachte
Hinter der Fassade einer alternativen Lebensweise mit Hofladen und fröhlichen Festen, auf denen die Nachbarschaft bei Fokloretänzen und Ziegengulasch erleben soll, wie schön es bei den Zwölf Stämmen ist, spielt sich Ungeheuerliches ab. Da unterwerfen sich Frauen und Männer auf der Suche einem System, das keine Individualität mehr kennt. Sie führen ein Leben, als Einzelne wie als Familien, das restlos von den willkürlichen Gesetzen eines Ältestenrates bestimmt wird.
Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, von der Absicht, einen Computer zu benutzen, bis zu dem Bedürfnis zu heiraten. Nichts wird selbst entschieden. Ein Leben mit unumstößlichen Rollenvorstellungen, in denen Frauen untergeordnet sind. Ein Leben, das durch und durch von der Angst geprägt ist, eine Sünde zu begehen, und von der Angst, bespitzelt und verraten zu werden.
Das ist das eine. Es ist die Entscheidung erwachsener Menschen, ein solches Leben zu führen. Das andere ist die Gewalt, die dort Kindern angetan wird.
Prügel mit der Rute, immer wieder
Schon seit Jahren gerät die Glaubensgemeinschaft wegen ihrer Erziehungsmethoden in Streit mit den Behörden. Die Mitglieder weigern sich, ihre Kinder auf öffentliche Schulen zu schicken. Bußgeldbescheide, Beugehaft. Sie lassen sich nicht erweichen. 2006 erteilte das bayerische Kultusministerium die Erlaubnis für eine private Ergänzungsschule. Doch nachdem der einzige staatlich anerkannte Lehrer ausgestiegen ist, wurde die Schule im Juni 2013 geschlossen.
Wenige Wochen später gelangten Informationen an die Öffentlichkeit, die beweisen sollten, dass es sich bei den Zwölf Stämmen nicht um harmlose Aussteiger handelt. Der RTL-Reporter Wolfram Kuhnigk hatte sich unter falscher Identität mehrere Wochen lang in Klosterzimmern aufgehalten. Mithilfe versteckter Kameras hielt er Szenen des Grauens fest. Prügelszenen, jämmerliches Weinen, mit der Rute immer wieder auf den Hintern. Das Filmmaterial führte zu einer groß angelegten Polizeiaktion.
Am 5. September 2013 nahmen Beamte in Klosterzimmern und in Wörnitz rund 40 Kinder in staatliche Obhut. Einige Mädchen und Jungen durften mittlerweile wieder zu ihren Eltern, weil sie schon 14 Jahre alt sind und deshalb nach den Erziehungsvorstellungen der Sekte nicht mehr geschlagen werden. 25 Kinder sind noch bei Pflegeeltern und in Heimen. In diesen Tagen hört das Amtsgericht Nördlingen insgesamt zehn Familien und prüft, ob sie ihre Kinder zurückbekommen sollen.
Wie auch immer es ausgehen wird: Bei den Zwölf Stämmen wird geschlagen. Daraus macht die Gemeinschaft kein Geheimnis. In ihrem Erziehungshandbuch wird das Alte Testament zitiert. "Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht." So heißt es in Sprüche 13,24. So machen sie es, sagt Robert Pleyer.
Versammlungsplatz der Zwölf Stämme in Klosterzimmern
"Die Erziehung der Kinder ist ein ganz wichtiges Thema", sagt er. "Frühmorgens, in der Lehrstunde, werden die Eltern schon von den Ältesten bearbeitet, dassZüchtigung den Kindern guttut." Die Schläge werden nicht aggressiv verabreicht, sondern ganz gelassen, mit System. Robert Pleyer schildert das so: Ein Kind räumt zum Beispiel eine Tasse nicht weg. "Warst du gehorsam?", fragt das Elternteil. Das Kind gesteht: "Nein." Es beugt sich vor. Es tut schrecklich weh mit der Rute. Es entschuldigt sich. Es wird kurz in den Arm genommen. Alles ist wieder gut?
Robert Pleyer hat die Mädchen und Jungen der Gemeinschaft unterrichtet. Er musste sie auch züchtigen. Wer gegen die Regeln verstößt, bekommt das zu spüren. Und gegen die Regeln verstößt ein Kind sehr schnell. "Ob es ein Kuscheltier ist, Schokolade oder nur ein bisschen herumalbern, den Kindern wird alles verboten", sagt Robert Pleyer. "Ihnen wird ständig ein schlechtes Gewissen gemacht."
Als er die eigenen Kinder schlagen sollte, geriet er in einen Gewissenskonflikt. Bis dahin war er der Ansicht, dass er das Richtige tat. Die Kinder sollten doch zu einem gottgefälligen Leben erzogen werden! Sonst drohte ihnen Satan! Schläge waren in seinem Weltbild Ausdruck wahrer Liebe. Spriggs hatte es so gesagt, Yoneq, wie er in der Gemeinschaft genannt wird. Er behauptet, seine Lehren direkt von Gott zu empfangen. Wer dagegen verstößt, begeht eine Sünde, ist ein Abtrünniger.
Als Robert Pleyer die Rute gegen die eigenen Kinder erhebt, passiert etwas mit ihm. Er spürt Zweifel. Er spürt Mitleid. Er entwickelt Verständnis für ihr Verhalten. Er erkennt sich selbst in ihnen. Er will raus.
Er schafft es erst beim dritten Versuch, die Zwölf Stämme zu verlassen. Seine Frau, Tochter eines "Ältesten", schafft es nicht. Sie kehrt in die Gemeinschaft zurück und lebt auch heute dort.
Robert Pleyer lebt mit seinen vier Kindern, zwischen drei und zehn Jahre alt, im Bayerischen Wald. Er hat eine neue Partnerin. Die Kinder besuchen Schule und Kindergarten. Sie spielen Fußball. Sie haben Freunde, sie lernen, mit Konflikten umzugehen, Entscheidungen zu treffen. Sie sind in der Freiheit angekommen. Der Weg ist noch lang. Er ist nicht immer leicht.
"In der ersten Zeit nach dem Ausstieg spürte ich, wie schwer es ist, auf die Gemeinschaft zu verzichten", sagt Robert Pleyer. "Da ist eine große Leere. Da hat man das Gefühl, dass nach vorne nichts mehr ist." Zu der alten Gemeinschaft gibt es keine Kontakte. "Als Abtrünniger bist du zum 'Feind Gottes' geworden", sagt er. "Du hast dein Versprechen gebrochen, dein Leben ihm zu geben. Dafür droht dir Strafe." Kürzlich war seine Partnerin krank. Sein erster Gedanke: "Jetzt werde ich bestraft!"
Sie lauern ihm nicht auf. Sie schreiben auch keine Brief mehr, in dem sie ihn warnen, dass die Kinder wieder zurückkehren werden. Er hat trotzdem Angst, dass sie entführt werden könnten. Und es gibt noch viele Nächte, in denen er von den Zwölf Stämmen träumt.
Die Freude über jeden neuen Schritt in ein selbstbestimmtes Leben ist größer. Asarah ist zehn und zweite Klassensprecherin. Robert Pleyer hat einen Imbiss. "Robert's Imbiss" steht auf dem Wagen. Ein großer Sprung vom Wir zum Ich.